Über alle Berge…
Am Morgen bricht unsere 5-er Gruppe auf. Zuerst Ravi und ich nur mit leichtem Tagesgepäck und dann folgen in einigem Abstand Jesbir und die beiden nepalesischen Porter, die erst noch in Ruhe die Ausrüstung zusammen packen. Die meisten Porter kommen aus dem Nachbarland Nepal. Für die Nepali ist es eine Möglichkeit im Ausland mehr Geld verdienen zu können (ca. 10 EUR/ Tag) und in Indien finden sich nur noch wenige, die diese schwere Arbeit machen wollen. Viele Jugendliche und junge Erwachsene aus Barsu gehen lieber illegalen aber lukrativen Geschäften nach, wie z.B. dem Anbau von Marihuana oder dem Ausgraben seltener Wurzeln aus dem Bergwald, für die im nahen China Höchstpreise gezahlt werden, vor allem wohl für eine Bodenfrucht, die eine viagra-ähnliche Wirkung haben soll. Nun ja, wenns die Chinesen so nötig haben…
Wir steigen langsam aber stetig durch den schönen Bergwald auf und Ravi weiss so einiges über die lokale Flora und Fauna zu berichten. Nach ca. 3 h wird der Wald schon etwas lichter und es öffnet sich eine herrliche Wiesenlandschaft, durchzogen von Nadel- und Laubbäumen (Eiche, Ahorn, etc..), Rhododendron-Bäumen und wir machen Rast an einem schön gelegenen Bergsee. Die Aussicht wird immer weiter und ich lerne die Namen sämtlicher umliegenden 6000-er kennen, mitsamt ihrer Legenden…. Von Jesbir und den Trägern ist noch nichts zu sehen. Ravi macht sich Sorgen, ob sie nicht doch zuviel zu schleppen haben. Gewichtsoptimiert ist die Ausrüstung nicht gerade: Die Zelte und Schlafsäcke glänzen nicht durch Hightech-Materialien und der Kerosin-Kocher ist eine sehr solide Schweisskonstruktion, der alleine wohl schon 2-3 Kilo auf die Waage bringt, zuzüglich 5 Liter Kerosin…Die Porter tragen jeweils 20-30 Kilo, wobei das ganze Gewicht an einem Stirnriemen hängt. Und das Schuhwerk sind einfache Plastikschuhe oder sogar offene Badelatschen ohne Socken. Wie die das schaffen auf verschneiten Bergpfaden damit Halt zu finden ist mir ein Rätsel. Aber dazu später mehr. Jesbir trägt meinen grossen 70 Liter Rucksack und ignoriert das Vorhandensein eines bequemen Hüftgurtes. Er trägt lieber alles auf den Schultern.
Ravi und ich laufen weiter zu unserem Zeltplatz Dayara auf 3200 m Höhe. Die fast 1000 Höhenmeter gingen recht problemlos und kurz nach uns sind auch Jesbir und die Porter eingetroffen. Während sie die Zelte aufbauen, Wasser holen und Esssen kochen, mache ich noch einen Abendspaziergang und finde mich dann zum schmackhaften 3-Gänge-Menü am Lagerfeuer ein.
Parallel mit und ist noch ein französisches Paar aus Chamonix auf der gleichen Route unterwegs. Ich werde sie die nächsten 12 Tage immer wieder treffen. Eigentlich ist es Käse alles doppelt schleppen zu lassen und 2 Guides und 2 Köche zu beschäftigen, aber Ravis Versuche mich vorab bei der anderen Gruppe unterzubringen, scheiterten. Sie machen wohl lieber ihr eigenes Ding und ihr junger Guide kennt offenbar das Gelände nicht halb so gut wie Ravi, der hier aufgewachsen ist. So ist es für mich o.k., so wie es ist, da ich mich mit Ravi in guter Gesellschaft fühle. Trotzdem werde ich mit Gefühlen von Geiz konfrontiert (soviel Geld an einem Tag ausgeben!) und komme mir etwas wie ein Kolonialherr vor, der von hinten und vorne bedient wird. Mit Ravi fühlt es sich am ehesten auf Augenhöhe an, letztlich ist das aber auch eine Illusion, denn obwohl er beste Verbindungen zur Politik und zum Diplomatenmilieu in Delhi hat, sind seine finanziellen Mittel doch ungleich niedriger als meine und seine persönlichen Freiheiten lassen viel weniger Spielraum zu. Manchmal fühlt es sich fast freundschaftlich an und dann wieder mehr in den Rollen Kunde und Dienstleister.
Die Nacht ist enttäuschend unbequem. Ravi hat extra für die Gäste 6 Thermorest-Matten, die sorgsam gehütet werden und jede ihren eigenen Stoffüberzug hat. Doch ausgerechnet die Matte, die er für mich eingepackt hat, ist undicht. Nach 5 Minuten ist die Luft draussen und ich spüre meine Hüftknochen in unangenehmer Deutlichkeit auf dem harten Boden. Ein Umdrehen auf die andere Seite bringt für eine halbe Stunde Erleichterung, aber dann geht das Spielchen von vorne los. So ein Mist! Aber ich denke an die anderen, die auch nur auf dünnen konventionellen Iso-Matten schlafen und denke, dass ich mich mit der Zeit schon an die harte Unterlage gewöhnen werde. Und irgendwann schlafe ich tatsächlich ein und bin am nächsten Tag sogar einigermassen frisch.
Der zweite Tag führt überwiegend auf einem Bergkamm entlang mit phantastischer Aussicht nach allen Seiten. Es sind keine grossen Anstiege zu überwinden und das leichte Auf und Ab führt zu immer wieder neuen Perspektiven. Nach ca. 4 h schlagen wir das Lager auf 3400 m Höhe auf. Der Ort trägt den Namen Syari.
Der dritte Tag begrüsst uns wie die Vortage mit wolkenlosem Himmel und die Sonne lässt den Raureif der leicht frostigen Nacht schnell dahinschmelzen. Gleich zu Beginn steht und ein steiler Anstieg auf einen 3900 Meter hohen Berg bevor. In dieser Höhe muss ich ziemlich viele Verschnaufpausen einlegen und es dauert eine ganze Weile bis die 500 Meter bis zum Gipfel überwunden sind. Die freie Rundumsicht ist ein wahrer Genuss! Meine Kondition ist offenbar nicht die beste. Oder ist es einfach das Alter? Vor 20 Jahren bin ich in Peru auf dem Machu Pichu-Trail noch mit voller Campingausrüstung und Lebensmittelvorräten für eine Woche auf 5000 m hohe Pässe gestiegen und jetzt mache ich schon mit leichtem Tagesrucksack ab 3500 m eine ziemlich schlappe Figur. Und damals habe ich sogar noch geraucht… Gut, dass ich mit dieser Reise und ihren wunderbaren Treks nicht noch 20 Jahre bis nach der Rente warte, denn es kann gut sein, dass ich dann gar nicht mehr dazu in der Lage sein werde…. Wir steigen bis auf 3800 m Höhe nach Palatuna ab und entschliessen uns dort zu bleiben, obwohl die Quelle dort nur sehr spärlich Wasser spendet. Aber es sind etliche Wolken am Himmel und der Weg bis zur nächsten Quelle kann, wenn es dumm läuft weitere 6 Stunden betragen. Die Gruppe mit dem französischen Paar entschliesst sich dennoch weiter zu gehen, worüber ich nicht böse bin, denn der Zeltplatz oberhalb eines Steilhangs wäre doch ziemlich beengt für 10 Leute. Wir sind mittlerweile einige Hundert Meter oberhalb der Baumgrenze und einer der Träger steigt tatsächlich bis hinunter in den Wald, um Feuerholz zu holen. Und danach kommt er sogar noch mit Ravi und mir mit hoch auf den nächsten Kamm, wo wir einen beeindruckenden Sonnenuntergang erleben.
Der vierte Tag bleibt morgens trüb und bewölkt und die Eisschicht auf Gräsern und Zelten bleibt. Fröstelnd sitzen wir am Feuer und überlegen, was wir tun. Es beginnt leicht zu schneien, aber zwischendurch lichtet sich der Nebel auch mal wieder und gibt vorübergehend die Sicht auf die umliegenden Berge frei. Wir können umkehren und abbrechen oder aber den Weg über den 4200 Meter hohen Pass, wie geplant ins nächste Hochtal nehmen. Als wir losgingen, war die Wetterlage noch sehr stabil, aber wir haben hier keinen Handyempfang, um den neuesten Wetterbericht anzusehen. Ravi meint, solange die Wolken in Bewegung sind, dürfte sich der Schneefall in Grenzen halten. Und es bläst ein eisiger Wind, der durch und durch geht und einen bis auf die Knochen frösteln lässt. Wir entschliessen uns weiterzugehen und den Weg über den Pass zu wagen. Es ist gut in Bewegung zu sein – so wird es ein bisschen wärmer. Die letzten drei Tage ging der Weg überwiegend auf einfachem Terrain über Wiesen. Aber wir sind jetzt höher und auch näher an den wirklich hohen Bergen dran, so dass der Weg mehr und mehr zu einem felsigen Steig wird. Als wir ca. 2 h unterwegs sind, fängt es wieder stärker an zu schneien und bald ist alles 5-10 cm mit Schnee bedeckt. Und ausgerechnet jetzt gibt es einige leichte Kletterpassagen, auch an Stellen, wo es ganz ordentlich runter geht und ich nicht ausrutschen möchte. Aber das ist gar nicht so einfach. Die verschneiten Felsen sind rutschig und viele Griffe bröckeln unter den Fingern weg. Ich bin der einzige, der warme Fausthandschuhe dabei hat, aber zum Klettern muss ich sie ausziehen und beim Festkrallen im Schnee, werden sie schon bald nahezu gefühllos. Die Temperatur ist jetzt noch mal deutlich spürbar gefallen und wir bewegen uns in ständigem Auf und Ab auf den Pass zu. Ich bin schon ziemlich erschöpft. Aber Umkehren ist jetzt auch keine Option mehr, da das länger dauern würde, als die Sache jetzt durchzuziehen. An einer Stelle brauche in bestimmt 5 Minuten, bis ich den Mut zusammen bringe eine bröcklige Kletterpassage über einem 100 Meter tiefen Abgrund zu bewältigen. Zuerst finde ich keine Griffe und Tritte, aber als ich dann mal drin bin und nicht mehr nach unten sehe und mich voll auf den Moment konzentriere ist es gar nicht mehr so schwer, wie es ausgesehen hat. Mein Respekt vor den Trägern wird immer grösser, denn sie sind in glatten Plastikschlappen ohne Socken unterwegs und balancieren dabei die vierfache Last wie ich auf dem Rücken. Als sie unter einem höhlenänhnlichen Felsvorsprung pausieren, meine ich jedoch auch so etwas wie Angst und Erschöpfung in ihren Gesichtern zu erkennen.
Wir schaffen die Passhöhe und danach wird das Gelände zum Glück wieder deutlich einfacher. Über verschneite Wiesen geht es wieder sanft bergab. Allerdings hängen auf dieser Seite vom Berg die Wolken noch dichter drin und es ist windstill. Hier hat es erheblich mehr geschneit, bestimmt über 20 cm. Irgendwann erreichen wir das Lager der Franzosen, die es am Vortag noch ohne Schnee in einem Gewaltmarsch bis hierher geschafft hatten, aber nun den ganzen Tag untätig im Zelt ausgeharrt hatten, weil es seit 7 Uhr morgens ohne Unterbrechung geschneit hatte und die Sicht keine 50 m betrug. Der Ort heisst Gidara und liegt unterhalb eines grösseren Gletschers, zu Füssen eines 6000-ers. Wir dürfen uns in deren Küchenzelt wärmen und bekommen heissen Chai angeboten. Und auch ein paar Bissen zu essen, denn das Mittagessen war ausgefallen bei uns und es ist schon nach 15 Uhr. Als ich im warmen Zelt am Feuer stehe, merke ich dass meine Daunenjacke klitschnass geworden ist. Mist! Draussen war es frostig genug, aber durch die Wärme drückt es jetzt die Feuchtigkeit bis nach innen durch. Als ich nach drausen trete wird es frösteliger als zuvor.
Ravi schlägt vor nach einer Höhle zu suchen, wo wir die Nacht Schutz finden können, denn es sei schwer im Schneetreiben die Zelte aufzubauen. Wir gehen ca. eine halbe Stunde bergab, aber es ist keine Höhle in Sicht und es dauert jetzt nicht mehr lange bis es dunkel wird. Allerdings hat es mittlerweile aufgehört zu schneien und die Sicht wird auch besser. Also entschliessen wir uns doch ein Zeltlager im Schnee zu errichten. Wir bauen mein Zelt auf und die anderen bauen nur das Kochzelt auf und wollen dort alle gemeinsam übernachten. Dumm ist, dass die Schlafsäcke der Träger nass geworden sind und meine Daunenjacke, die ich die letzte Nächte zur Unterstützung mit in den Schlafsack genommen habe, auch durchweicht ist und nicht mehr wärmt. Ich versuche mich so warm wie möglich einzurichten, aber mein Schlafsack ist für eine Komforttemperatur von +2 Grad ausgelegt und schon jetzt haben wir bestimmt -10 Grad. Und es beginnt jetzt aufzuklaren. Na super! Sternenklare Nacht über Neuschnee auf fast 4000 m Höhe. Das wird richtig kalt. Jetzt geht es darum irgendwie die Nacht zu überstehen.. ich ziehe sämtliche trockene Klamotten an, schlüpfe in den Innenschlafsack aus Thermolite und Seide, der angeblich bis zu 6 Grad Temperaturerhöhung bringen soll (hatte ich mir extra deswegen vor der Reise noch gekauft, da ich mit Temperaturen bis etwa -5 Grad gerechnet hatte). Es wird aber immer noch nicht warm im Schlafsack. Also hole ich meine Überlebensfolie aus beschichtetem Alu raus und wickel sie um den Schlafsack. Und das bringt tatsächlich einiges. Der Schlafsack wird zwar unter Folie mit der Zeit feucht, aber immer noch besser als ohne Folie. Meine Füsse sind zwar weiterhin zwei Eiszapfen, aber der Kernkörper kriegt langsam wieder Betriebstemperatur. Als Jesbir dann einige Zeit später mit einer warmen Suppe und Dhal/Reis kommt, wird es sogar fast gemütlich. Nach dem Essen versuche ich zu schlafen, aber die Temperatur rutscht immer weiter in den Keller, so dass ich allenfalls mal kurz einnicke und dann wieder fröstelnd und zähneklappernd wach liege. Gegen Morgen kann ich tatsächlich eine Weile schlafen und als ich in der ersten Morgendämmerung aufwache merke ich dass meine Wasservorräte komplett durchgefroren sind und meine Daunenjacke, die auf dem Zeltboden neben mir lag zu einem einzigen Eisbrett gefroren ist.
Wie gut es dann tut, als die wärmende Morgensonne so langsam die fröstelnde Kälte im Körper durch angenehme Wärme vertreibt. Im Schlafsack auf der Isomatte draussen einen heissen Chai trinken und in die Winterberglandschaft blicken – wunderbar!
Für uns ist es glimpflich ausgegangen. Wenige hundert Kilometer weiter östlich am Annpurna-Trek in Nepal mussten zur gleichen Zeit mehrere Hundert Wanderer per Hubschrauber ausgeflogen werden und für 50 Menschen kam jede Hilfe zu spät…
Eigentlich war für diesen Tag eine Wanderung zu einem 4500 hohen Gletscher vorgesehen, aber Ravi und ich steigen gerade mal 200 Höhenmeter nach oben und schon beginnt es sich wieder zuzuziehen. Ausserdem steckt mir noch die Nacht in den Knochen und ich bin nicht wirklich fit. So kehren wir um und machen uns so langsam an den Abstieg ins Tal. Vorher sind jedoch noch 300 Höhenmeter aufwärts zu bewältigen, die ich nur ganz langsam schaffe. Auch bei dem anschliessenden Abstieg von 1300 Höhenmetern werde ich zum Ende hin immer langsamer. Die Knie machen zum Glück keine Probleme, aber ich bin einfach erschöpft.
Das Zeltlager ist in an diesem Abend des fünften Tages schon wieder in einem bewaldeten Tal. Die Nacht ist viel besser als die letzte, aber morgens dauert es sehr lange, bis die Sonne in das enge Tal hinein scheint und wärmt. So langsam habe ich die Kälte satt und fühle mich auch nicht mehr wohl in meinen Klamotten, die ich seit Tagen nicht mehr wechseln konnte.
Am Abend des sechsten Tages kommen wir dank Ravi privat in dem kleinen Dorf Vangeli unter, das den Eindruck einer ganz gut funktionierenden Gemeinschaft macht. Die 400 Bewohner müssen erst mal 1,5 Stunden bergab bis zur nächsten Strasse laufen – Autos gibt es daher im Ort keine. Die Wege zwischen den Häusern sind schmaler und vieles funktioniert auch einfach auf Zuruf. Die Gesichter der Menschen sehen hier zufriedener aus, als in dem weiter &entwickelten& Barsu. Es ist angenehm in dieser Nacht wieder in einem warmen weichen Bett schlafen zu können.
Am siebten Tag steigen wir ins Tal ab und dort wo wir an die Strasse kommen, gibt es dort wunderbar heisse Quellen, wo ich in fast 40 Grad heissem Wasser den ganzen Dreck herunterwaschen kann und die müden Glieder entspannen kann.
Nach dem Bad trennen sich unsere Wege. Ravi und die drei anderen kehren nach Barsu zurück und ich möchte noch hoch zur Gangesquelle. Die Wanderung beginnt im nur 54 km (3 Stunden) entfernten Gangotri und wird weitere drei Tage dauern. Aber dazu mehr im nächsten Bericht.
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