La Plata

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Seit zwei Tagen bin ich an meiner diesjährigen Weihnachtsdestination, bei der Tochter einer Halbcousine, in La Plata (Provinz Buenos Aires). Es ist schön zu den Feiertagen in einem familiären Umfeld willkommen zu sein.

Eine Halbschwester meines Vaters ist den 1920-er Jahren nach Argentinien ausgewandert. Eine 91-jähriger Tocher von ihr lebt noch. Die Begegnung mit ihr war etwas humoristisch: Sie ist zwar körperlich noch fit, aber geistig lebt sie in einer eigenen Welt, die sich etwa 30 Jahre in der Vergangenheit befindet. Sie fühlt sich wie 60 und wundert sich, dass die Frau, die behauptet ihre Tochter zu sein bereits graue Haare hat. Ausserdem leben in ihrer geistigen Welt noch ihre Eltern und sämtliche Geschwister. Sie erzählt also von der Vergangenheit so als ob sie im Hier und Jetzt wäre. Das Langzeitgedächtnis funktioniert noch gut und sie spricht akzentfrei deutsch, obwohl sie ständig zwischen den beiden Sprachen wechselt. Was wir anscheinend gemeinsam haben, ist die Freude an deftigen Wortspielen zu sein. Sie benutzt gerne das Wort „mier…coles“ statt „mierda“, was dem deutschen „Schei…benkleister“ entspricht. Sie verwechselt mich mit einem Onkel von ihr und wundert sich, als ich sage, dass ich nicht 15 Jahre, sondern erst 3 Wochen in Argentinien bin. Und sie stellt mir im 5-Minutentakt immer wieder die selben Fragen. Und als ich mich zwischendurch mal ein Stündchen hinlegen und wieder erscheine, hat sie die vorherige Begegnung wieder komplett vergessen, weiss nicht wer ich bin und die Frage- und Erzählschleife fängt von neuem an, wie eine Schallplatte, die vor 30 Jahren hängen geblieben ist und immer in der gleichen Rille läuft. Aber für sie selber ist es wohl eine Gnade, denn so fühlt sie sich fit und muss sich nicht mit Gedanke an den eigenen Tod und den ihrer Liebsten belasten.

Bei ihrer 70-jährigen Tochter Soledad bin ich gut untergebracht und da ihre 3 Kinder aus dem Haus sind, geniesst sie es offenbar mich zu bemuttern. Mir ist es fast etwas unangenehm, wenn ich so bedient und bekocht werde, aber sie lässt es sich nicht nehmen und protestiert schon, wenn ich mich auch nur beim Geschirrspülen nützlich machen will. Das Haus ist nett geschnitten und liegt ziemlich zentral in diesem Universitätsstädtchen eine Stunde südlich von Buenos Aires. Allerdings tost auch hier Tag und Nacht gnadenlos der Autoverkehr vorbei, wie schon in Salta zu spüren, ist es in Argentinien mit der beschaulichen Ruhe vergangener Zeiten vorbei.

Ich bekomme die Auswirkungen der ersten Massnahmen des neuen Präsidenten Macri mit. Gerade mal sechs Tage ist er im Amt und schon hebt er die Devisenbeschränkungen auf. Er überlässt den neuen Wechselkurs des Peso nun dem freien Markt, was über Nacht zu einer Abwertung des Peso von 46 % führt. Innerhalb nur eines Tages gleichen sich der offizielle Kurs und der Schwarzmarktkurs an. Die vorherige Linksregierung von Christina (wie sie von ihren Anhängern vertraulich genannt wurde) hatte den Kurs künstlich festgelegt, um Vorteile bei der Begleichung von Auslandsschulden zu erzielen. Ihre Massnahmen waren vielleicht für die Binnenwirtschaft des Landes gut, aber sie führten im Ausland zu Vertrauensverlust, Investitionsstopp und in Folge zu Devisenknappheit. Meine baren Dollars sind jedenfalls jetzt nicht mehr 15 Pesos, sondern nur noch 13,7 wert….

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Am Abend habe ich Gelegenheit beim Jahresabschluss der Biodanza-Gruppe von La Plata viele schöne Begegnungen, Augenkontakte, Tänze, Umarmungen zu geniessen. Biodanza ist für mich eine tolle Gelegenheit in verschiedenen Regionen der Welt – und speziell in Südamerika – mit gleichgesinnten Menschen in alles andere als oberflächliche Kontakte einzutauchen.

Und die Weihnachtsstimmung ist hier im Sommer so gar nicht stille Nacht, heilige Nacht. Das letzte Stück, das wir tanzen, teile ich zu der folgenden Musik in einem tollen und sehr lebendigen Tanz mit einer dunkelhaarigen Schönheit:

Um Mitternacht treffe ich dann noch Mora, die Tochter von Soledad und Enkelin meiner Halbcousine in einer Musikkneipe, wo eine Freundin von ihr mit ihrer Band auftritt, einer Mischung von Tango und brasilianischem Samba. Wir unterhalten und prima und trinken noch das eine oder andere Bier:

Über das Wochenende werde ich zu einem Workshop nach Buenos Aires fahren – wieder Biodanza, geleitet von der Tochter des verstorbenen Begründers von Biodanza. Das Thema scheint mir gut zum Jahresabschluss, sowie zum Motto meiner Reise zu passen:

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Das Biodanza-Seminar fand an einer sehr schönen Location auf dem Land nördlich der Hauptstadt statt. Ein bisschen Show und viel Reden, aber trotzdem war es gut dort zu sein. Obwohl die Gruppe in La Plata für mich mehr Tiefgang hatte. Meine Sehnsucht nach bleibenden, tiefgründigen Kontakten habe ich deutlich bei einer Runde von Abschluss-Umarmungen wahr genommen. Eine Frau, die ich bisher kaum bemerkt hatte, fühlte sich so toll an – und das gegenseitig – dass wir uns gar nicht mehr loslassen wollten…Aber wieder ein Abschied, sie kommt aus Rosario, 250 km nördlich von Buenos Aires… Ich habe noch nicht mal ihre Kontaktdaten. Am Ende des Workshops ging eine Liste herum, wo man sich eintragen konnte zwecks Gründung einer Facebook-Gruppe. Ich dachte in dem Moment noch dran, dass ich mir besser ein Foto davon mache, aber ich habe es nicht gemacht. Und nun warte ich fast 3 Wochen später immer noch vergeblich auf die Gründung dieser Gruppe. Keine Ahnung was dieser Nasenbär mit der Liste gemacht hat, der gesagt hat er würde sich darum kümmern… Einen Namen hatte ich noch in Erinnerung. Ihn habe ich angeschrieben über facebook, ob er was von der Gruppe weiss, aber auch Fehlanzeige. Das sind Dinge, die mich in Argentinien zum Wahnsinn treiben. Zuverlässlichkeit scheint für mich ein wichtiger Wert zu sein…

Zu den existenziellen Fragen des Workshops &Wo leben, mit wem, was arbeiten& ist mir die komplexe Verzahnung nochmals besonders deutlich geworden. Da ich auf das &wo leben& am meisten aktiven Einfluss habe, werde ich hier besonderen Fokus drauf setzen. In der Hoffnung, dass sich die anderen Fragen dann auch mit der Zeit lösen. Also Landkommune mit netten Leuten: Wo bist du???

In La Plata habe ich Zeit herum zu streifen. Derzeit schreibe ich am Heilignachmittag aus der &republica de los ninos&, einem sozialen Experiment aus der Peron-Ära der 50-er Jahre. Hier wurde Kindern die komplette Selbstverwaltung einer kleinen Stadt mit kompletter Infrastruktur, Parlament, etc… übergeben. Selbstverständlich gemäss den Arbeiterklasse-Idealen von Evita Peron….

Gestern war ich auf den Spuren meiner Vergangenheit in Buenos Aires, das eine Stunde von La Plata entfernt liegt. Nach einer geführten Fahrradtour machte ich mich auf weitere Plätze aus der Zeit aufzusuchen, als ich 1992 für 4 Monate dort wohnte. Sogar das Haus habe ich wieder gefunden, wo ich damals mit meiner deutschen Freundin wohnte, bis sie mich wegen eines Argentiniers verliess – este hijo de puta, boludo!!! Ich weiss noch wie ich in einem schlechten Film, mich in einem Cafe gegenüber des Hauses stundenlang auf die Lauer legte, um diesen A….. zu treffen und ihn zu verprügeln. Aber dazu kam es zum Glück nicht. Aber das Cafe war noch an der gleichen Stelle…. Es war meine erste grosse Liebe gewesen, die in Buenos Aires ein Ende fand. Danach versank ich ein Jahr lang in tiefer Depression und Selbstmitleid, bis ich ein Jahre später wieder einige Monate in Argentinien weilte (in Salta) und dort meine Lebensfreude wieder fand. Dieses Land ist also für mich mit tiefen Emotionen verbunden…

Mal schauen, was sich die nächsten Tage noch so auftut. Mit den Kindern von Soledad verstehe ich mich gut und es wird wohl noch das eine oder andere Asado geben. Oder zum Schwimmen ans Meer. Vielleicht mache ich auch mal einen Ausflug rüber nach Montevideo…. Auf diese Weise kann ich mein Visum für Argentinien erneuern und noch ein paar Cash-Dollars aus dem Automaten ziehen. Trotz der Aufhebun der Devisenbeschränkungen, ist der Schwarzmarkt-Kurs für bare Dollars noch um einiges besser als der offzielle.

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Argentinien ist ein Chaos-Land. In vielen Bereichen unterentwickelt und die Knappheit und das Schlangestehen erinnert mich irgendwie an den real existierenden Sozialismus. Am Bankschalter, am Geldautomaten, an der Bushaltestelle, beim Tickets kaufen, … man muss viel Geduld und Zeit mitbringen. Wenn man mitbekommen hat wie sich durch smartphone-apps und Online-Business in Europa, Asien, Nordamerika, Australien, Neuseeland die Wartezeiten verkürzt haben und alles sofort von überall erledigt werden kann, fühlt man sich in Argentinien um mindestens 10 Jahre zurück versetzt.

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Fortschrittliche Sozialgesetzgebung der Peronisten, guter Minderheitenschutz, ein tolles Pressegesetz, Unabhängigkeit von den USA, aber auch viel Korruption und eine Ineffizienz, wo es mir die Haare aufstellt und die Zehennägel hochrollt. Kaum etwas funktioniert zuverlässig……

Weihnachten geht hier alles etwas später los – es wird ja auch erst um 9 Uhr abends statt um 5 Uhr nachmittags dunkel. So ab 21:30 Uhr trudeln die ersten Gäste ein und es wird zu Abend gegessen. Keine besondere Weihnachtsstimmung. Aber dann kurz vor Mitternacht gibt es einen Countdown wie an Sylvester, es wird mit Sekt angestossen und man wünscht sich gegenseitig frohe Weihnachten. Draussen Böller und ein paar Raketen – nix mit stille Nacht…Es geht in ausgelassener Stimmung bis nach 3 Uhr morgens weiter. Die Nacht ist warm und sternenklar und ab und hört man Autos mit voll aufgedrehter Partymusik vorbei fahren – Summerfeeling:

Am folgenden Tag bin ich eigentlich mit der jüngeren Generation gegen 13 Uhr verabredet zum Baden raus zu fahren. Ich wache mit einem ziemlichen Kater auf und bin ganz froh, dass die ersten Abstimmungen zum weiteren Verlauf des Tages, dann erst ab 15 Uhr erfolgen und wir dann um 16:30 Uhr an einen schönen Fluss fahren, der auf angenehme 30 Grad temperiert ist. Über Mittag wäre es wohl eh zu heiss gewesen…

Am nächsten Tag am Rio de la Plata:

Sylvester gab es wieder ein nettes Gartengrilfest. Aber die richtige Party ging natürlich erst weit nach Mitternacht los. Speziell nur in La Plata gibt es den Brauch Figuren aus Pappmachee und Holz zu formen, die prämiert werden und in der Neujahrsnacht verbrannt werden. An 140 verschiedenen Orten gibt es solche Figuren mit den unterschiedlichsten Motiven und verbrannt werden sie zu unterschiedlichen Zeiten. Vor dem Verbrennen gibt es jeweils ein Feuerwerk vor Ort, so dass das Feuerwerk um Mitternacht gar nicht so spektakulär war. Um 02:30 gehen wir zu einer solchen Verbrennung und es ist schon ein eindrucksvolles Spektakel. Die Hitze ist noch in 100 m in Entfernung gewaltig zu spüren und die Flammen sind mindestens 5 m hoch – ich bin froh zu wissen, dass alle Zündler vorher eine Einweisung durch die Feuerwehr absolvieren müssen:

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Im Anschluss gehen wir dann noch zu einem anderen Ort, wo nach der Verbrennung ordentlich getanzt und gefeiert wird. Sylvester als Sommerfest hat schon eine ganz andere Energie:


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